Kategorien
Gedenken 1946

Der erste und der letzte Abschied

Text 4

Ort: Schottenring vor dem Hotel de France.
Zeit: Sommer und Spätherbst 1944.
Personen: Sie, ich.

Das Hotel de France am Schottenring und die Ecke zum Votivplatz. Allerdings gute 40 Jahre vor den Geschehnissen in der Erzählung. Carl (Karl) Ledermann jun. (Hersteller), Wien I. Schottenring. Hotel de France, No. 3., 1903 (Gebrauch), Wien Museum Inv.-Nr. 203102, CC0

Erster Abschied:

Sie: Jetzt müssen Sie sich aber doch entschließen heimzufahren. Schade, dass Sie mich nicht begleiten können, ich hätte Ihnen doch so viel zu erzählen.

Ich: Es freut mich unendlich, dass Sie heute gekommen sind und ich bin Ihnen so dankbar. Sie wissen nicht, wie allein ich war.

Sie: Doch, ich habe es gefühlt, dass Sie unendlich einsam waren.

Ich: Wo findet man einen Menschen, der so denkt. Wie viele Jahre schon, bin ich einsam gewesen und keinem Menschen wäre es in den Sinn gekommen, mir beizustehen.

Sie: Sie haben wahrscheinlich nie jemand gesucht.

Ich: Ich habe nie einen Menschen gesehen.

Sie: So anspruchsvoll sind Sie?

Ich: Ich bin nur nicht imstand über das tägliche Ereignis und über den primitiven Alltagsablauf zu sprechen. Da bin ich allerdings lieber allein.

Sie: Nun ist mir aber schon wieder eine Straßenbahn davongefahren.

Ich: Sind Sie sehr traurig deshalb?

Sie: Nein, gar nicht. Es ist so schön, wenn man endlich einen Menschen trifft, von dem man weiß, er versteht mich, er versteht mich bis ins tiefste psychische Erleben. Und das ist sehr viel.

Ich: Sie beschämen mich. Ich bin nur nicht oberflächlich, nie vorschnell.

Sie: Ich kenne Sie nur so wenige Stunden und mir ist es, als hätte ich sie schon immer gekannt, so geborgen fühle ich mich in Ihrer Nähe.

Ich: Sie sind sehr schön und Ihre Lippen sind so süß, Ihre Stimme hat einen so warmen Ton, Sie sprechen zu mir so schöne Worte.

Sie: Es sind nicht allein Worte.

Ich: Wirklich? Sie machen mich damit so glücklich.

(Ich ergreife Ihre Hände und küsse Ihre Fingerspitzen.)

Sie: (Nachdem sie mich einige Zeit gewähren ließ, entzieht Sie mir sanft die Hände.) Aber nun endgültig auf Wiedersehen morgen am Schwedenplatz.

(Sie springt auf das Trittbrett eines eben abfahrenden Sraßenbahntriebwagens.)

Ich: Um wie viel Uhr?

Sie: (Steht auf der Plattform und winkt mit dem weißen Wildlederhandschuh. Der Wagen biegt eben auf den Votivplatz ein und entzieht sich schon fast meinem Blick.) Um Viertel Sechs, ich werde sogar pünktlich sein.

Ich: Danke, auf Wiedersehen.

Zweiter Abschied:

Es ist kalt, frostig und gänzlich finster.

Ich: So muss ich dich allein lassen, ich kann dir ja nicht einmal schreiben. Die Post ist ja schon unterbrochen nach dem Westen, es ist ein Verbrechen von Wahnsinnigen ein Mädchen an die äußerste Front zu schicken.

Sie: Ich werde immer an dich denken. Dieses Gefühl wird mich alles ertragen lassen.

Ich: Du kennst nicht das Grauen, in das du nun gehst.

Sie: Ich bitte dich, mach es mir nicht schwer.

Ich: Ich kann nicht mehr, es ist der schrecklichste Tag meines Lebens.

Sie: Ich bitte dich, nur keine Tränen. Ich kann sonst meine mühsam bewahrte Fassung nicht bewahren.

Ich: (nehme sie in meine Arme und sie küsst mich, küsst mich so innig und leidenschaftlich, wie noch nie zuvor.) Du Liebe nun geht die Sonne unter für mich.

Sie: Nein, du sollst leben, du musst warten auf mich.

Ich: Wo soll ich dich suchen? Weißt du denn, wie sich alles entwickeln wird? Keine Post, keine Verkehrsmöglichkeit und ich weiß dich inmitten allen Grauens.

Sie: So denke doch nicht immer an alles, alles Schlechte.

Ich: Ich kann es nicht mehr ertragen, es ist mir zu schrecklich.

Sie: So lass mich nun gehen.

Ich: (aufschreiend) Nein!

Sie: So lass mich noch einmal in deine lieben, treuen Augen blicken, ich nehme diesen Blick mit mir.

(Sie zieht mich vor ein Fenster, aus dem ein Lichtstrahl aus dem Zimmer auf die Gasse fällt. Sie blickt mich lang und voller tiefer Liebe an, dann will sie sich sanft von mir frei machen.)

Ich reiße sie noch einmal in meine Arme. Dann sind wir noch Minuten im Kuss vereint. Sie reißt sich los, kommt aber nach einigen Schritten zurück, nimmt meinen Kopf in ihre lieben Hände und drückt mir noch einmal ihre Lippen ins Haar. Dann ist sie mit ein paar Schritten im Nebel verschwunden. Ich halte noch immer die Arme ausgestreckt, ich hatte kein Wort mehr sprechen können. Ein bitteres Gefühl sitzt mir würgend in der Kehle. Nun gehe ich auch. Fast taumelnd. Der Nebel liegt schwer auf mir. Heiße Tropfen rinnen mir über die Wangen. Ich schäme mich ihrer nicht.

Sie ist nicht mehr zu mir zurückgekehrt.