beg. am 15. Febr. 1946
Wieder sieht ein trüber, nebliger Morgen durch die schmutzigen, teilweise zerbrochenen und mit Papier verklebten Fenster einer der vielen hundert Stuben der Kremser Pionierkaserne. Es ist etwas vor 6 h. Gleich wird der U.V.D. kommen und „alles raus“ brüllen. Doch halt, heute am Sonntag wird ja um 7 h geweckt. Ich ziehe mir schnell wieder die Decke über den Kopf, um nicht die kalte Dezemberluft einatmen zu müssen

Nur nicht denken. Denken ist hier sehr gefährlich. „Denken tun nur die Pferde, dazu haben sie ja einen großen Kopf“, predigt der ungeheure Hauptfeldwebel beim Antreten. Er hat recht. Wenn du hier Mensch sein willst, gehst du unweigerlich zu Grund. Ich bin auf dem Weg dazu. Noch bin ich nicht willenlos, noch ist mein Denken nicht ausgeschaltet, gleichgeschaltet und missgestaltet.
Ich habe jetzt noch Glück im Unglück. Ich schlafe mit 4 Gefreiten und 2 Obergefreiten in einer Stube, weil die Mannschaftsstuben total überfüllt sind. Denn noch einmal hat die Kriegsmaschine des großen „Allesverstehers“ alles einrückend gemacht, was nur irgendwie kriechen kann, dazu einige Staatenlose und Volksdeutsche. Die Ausbildnergefreiten, 4 „Ostmärkerer“ und 2 Kölner, sind mir recht angenehm. Sie beachten mich nicht. Und das ist hier alles, ja das Leben. Denn hier gilt es „nur nicht auffallen“. Wehe, wenn du einmal einem Halbgott mit silbernen Tressen missfallen hast, dein Leben wird keine ruhige Minute haben.
Nun höre ich Getrappel von eisenbeschlagenen Stiefeln auf den Platten des Ganges draußen, der sich unendlich lang durch den ganzen Kasernenbau windet. Jetzt kommt auch schon der U.V.D.. „Alles raus.“ Er sagt es etwas freundlicher in unsere Stube, denn er war ja vor nicht allzu langer Zeit selbst noch in dieser Stube und trug den silbernen Doppelwinkel am Ärmel. Der eine Kölner grunzt schlaftrunken: „Mensch Piepel, mach doch die Tür von außen zu.“ Grinsend zieht ihm der U.V.D. die Decke weg und wirft sie auf einen Spind. Der Kölner fischt zappelnd unter seiner Pritsche einen Holzpantoffel hervor, trifft aber nur mehr die Tür, denn der U.V.D. ist schon längst wieder hinaus, um die anderen „Scheißrekruten“ noch viel unsanfter hinauszutreiben.
Nun ist alles in Bewegung. Alle ziehen sich schnell an, es ist furchtbar kalt. „Entduuuuunkeln“ höre ich nur den U.V.D. über den Gang brüllen. Vor jedem Befehl wird gepfiffen. Es wird hier überhaupt viel gepfiffen. Vielleicht zur Förderung der „Manneszucht“. „Wollen ma zuseh’n ob ich aus euch Schlappschwänzen noch n’richtiger Soldate wird“, brüllt der dicke Oberfeldwebel aus Schwaben immer, während er uns zum hundertsten Male über den schmutzigen Kasernenhof jagt. Ich bin nun doch schnell entdunkeln gelaufen, sonst werde ich „rausgeholt“. Von jeder Stube muss einer Entdunkeln gehen und richte mich aus nach meinem Vordermann. Jetzt bekommt jeder eine Strecke des Ganges zugewiesen, wo er die Papierroller hochwinden muss. Das ist gar nicht so einfach, denn fast alle Roller sind kaputt. Gleich ist es 7 Uhr und ich muss mich beeilen.
Inzwischen hat ein Rekrut eine Blechkanne voll Kaffee auf den Tisch in der Stube gestellt. Ich nehme rasch ein Stück schwarzes Brot aus dem Spind und würge es hinunter. Schnell noch in den Waschraum unter die eisige Brause. Es ist niemand mehr hier zu meinem Glück, denn es wäre mir furchtbar ergangen, hätte jemand gesehen, dass ich immer noch meine Weste anhatte. „Waschen gibt es nur mit nacktem Oberkörper und wenn es 1000° unter Nulle hat“, ist die Parole. Nun rasch, rasch noch die „Uniform“ an und die Stiefel. Wie sehe ich jetzt traurig aus. Die Bluse verschmiert und verdrückt, mindestens um 4 Nummern zu groß, denn es ist 1944 und der Krieg dauert schon Jahre. Es gibt nur [eine] neue Uniform, wenn man an die Front „abgestellt“ wird. Auch die Stiefel sind zu groß. Dafür sind sie nicht wasserdicht, denn es gibt kein Leder zur Reparatur. Die Gefreiten sind schon am Gang beim Antreten. Ich muss mich beeilen. Noch den Umschwung mit Seitengewehr umgeschnallt, heute ohne Brotbeutel und Patronentasche, denn um 9 h ist Flaggenhissung.
Auch die „Spritze“ darf heute im Spind bleiben. Da muss ich noch schnell alle Knöpfe ansehen, ob auch alle zu sind, sonst gibt’s: „Auf, marsch, marsch, nieder, auf, marsch, marsch.“ Ein beliebter Scherz, der sich oft wiederholen lässt. Am Gang steht schon die A-Kompanie. Ich schiebe mich in die letzte Reihe, ich bin ja einer der kleinsten. Nun marschieren wir ohne Tritt in den Hof. „Marode und Kommandierte links rauuus!“ Schon steht die Kompanie, denn vom großen Hoftor her naht sich der „Spieß“ mit seiner Lunte [?]. Der dritte Knopf ist bei ihm offen, da schaut das gefürchtete Notizbuch heraus. Er ist bald zwei Meter groß. „N’Bursch wie’n oller Germane“, sagen die Uffzs und Feldwebel anerkennend von ihm. Er brüllt furchtbar. Es ist anfangs erschreckend, doch mit der Zeit weiß man, er frisst einen nicht. Nun, „folgt der übliche Zauber, Meldung des U.V.D. an den Spieß“. Dann kommt der Hauptmann mit dem Oberleutnant. Es sind ältere, elegante Sadisten [?]. „Zur Meldung an den Herrn Hauptmann, die Augen links“, er hebt die behandschuhten Finger nicht mehr an den Mützenschirm, denn inzwischen ist der „Teutsch Gruß“ auch bei der Wehrmacht eingeführt worden. Er hebt also den Arm in fast vorschriftmäßige Höhe, ich glaube er lächelt, denn er ist nicht bei der „Partei“. Nun sagt er das erlösende „Weitermachen lassen“ und begibt sich fort, wahrscheinlich zu seinen geliebten Pferden. Ein sehr sympathischer Zug an ihm. Er ist ja auch kein alter Kommis-Knopf, nur Reserve Offizier.
Jetzt kommt der Stabsfeldwebel, der Ausbildungsleiter. Zwar Österreicher aber viel schlimmer als alle Piefkes der Kaserne zusammen. Er hat die Charge nur wegen seiner unendlich vielen Dienstjahre beim „Barras“ erreicht, eine geistige Null. Er hasst die Front ebenso sehr wie uns Rekruten. Immer wieder müssen wir um den Hof marschieren und dabei „Siehst du im Osten das Morgenrot“ singen. Ich kann nicht singen. Mir würgt es im Hals. Ich möchte erbrechen. Es ist einfach scheußlich. Ich kann nur immer denken, oh Gott, lass mich in einem Winkel verenden, damit ich das nicht mehr sehen und hören muss. Ich gehe in der letzten Reihe, da kann ich wenigstens gehen, wie ich will. Es fällt nicht so auf, wenn ich nicht im Gleichschritt marschiere. Nun kommt auch die zweite Ausbildungskompanie auf den Hof, auch die erste und zweite Marschkompanie. Alles formiert sich zu einem Marschblock und der windet sich zum Tor hinaus.
Vor der Kaserne steht ein weißer, vielleicht 15 m hoher Mast, vor dem das nun vollzählige Bataillon Aufstellung nimmt. Irgend eine Stimme kommandiert „Stillgestanden“. Ich stehe nicht still, denn ich bin als Letzter gedeckt durch die Kompanie, links ist eine Mauer, vor mir ein kleiner Zaun. Es kann mich niemand sehen. Ein kleiner dicker Hauptmann hält eine Ansprache. So höre ich nur einzelne, besonders betonte Werke [sic!], wie Endkampf, Durchhalten, Führer, Endsieg, Bombenterror usw., eben das übliche Repertoire. Nun reißt mich ein brüllendes „Sieg Heil“ aus meinen trüben Gedanken. Eine Komp. nach der anderen marschiert mit Kopfwendung am Bat. Komm., einem jungen Major, vorbei. Kritisch mustert er Mann für Mann. Über mich sieht er schon ins Leere, denn ich bin der Letzte. Keine Zivilisten waren stehengeblieben, um zuzusehen.
Gerade als ich im dunklen Torbogen die Torwache passiere, biegt auf der Straße ein Trüppchen B.D.M. Mädeln um die Straßenecke, ebenfalls mit irgendeinem fürchterlichen Singsang. Im Hof heißt es „marsch, marsch, wegtreten“. Alles läuft über die Stiegen in die Stuben. Dann ist Putz- und Flickstunde. Ich stopfe einem Gefreiten die Wollsocken, er verschafft mir dafür einen außertourlichen freien Nachmittag an einem Tag der kommenden Woche. Dann kommt etwas Unangenehmes. Alle in den Gemeinschaftsraum „zum Gemeinschaftsempfang“ des politischen Wochenberichtes. Mir ist die Stunde grässlich, man kann nichts denken, der Lautsprecher dröhnt, man muss zuhören. Immer wieder dieselben Phrasen, es ist ekelhaft. Endlich darf ich meinen Hocker nehmen und auf die Stube gehen. Die Gefreiten geben mir ihre Essmarken, ich hole für alle das Abendbrot und Frühstück für morgen. Denn Nachmittag ist Ausgang, da bleibt fast niemand in der Kaserne.
Ich habe nun auch meinen Teil erhalten: ein halbes Brot, ein Stück Kunsthonig, 1 Zipfel Wurst, eine Schnitte Margarine. Es genügt mir, ich kann alles ertragen – außer Unfreiheit. Dann gehe ich mich ums Mittagessen anstellen. Eine lange Schlange steht im Hof vor der Tür zur Küche. Da steht glücklich Helmut neben mir. Er ist Schauspieler von Format und leidet gleich mir unter dem unendlichen Zwang. Wir wollen gleich nach dem Essen nach Mautern hinübergehen. Dort ist ein großes Lager für Flakausbildung. In ihrem letzten Wahnsinnsaufgebot haben die Machthaber sogar die Mädchen in Uniform gezwungen. Helmut hat auch einige junge Schauspielerinnen dort. Ich – eine liebe, gute Freundin.
Wir essen unsere Menage, die heute aus einem Stück Schweinebraten, Kartoffeln, die sogar geschält sind, und einer undefinierbaren Suppe besteht. Wir brechen, sobald es möglich ist, auf. Es ist ja doch ein bisschen Freiheit, wenn auch nur begrenzt durch einen Ausgangsbefehl, der Rückkehr um Schlag zehn Uhr abends verlangt. Helmut ist so glücklich, er hat keinen Dienst heute. Sonst hat er so unter den irrsinnigen Schikanen seiner Vorgesetzten zu leiden. Er ist schwer herzleidend, deshalb ist er bei der Stammkompanie. Dort sind fast nur Krüppel, arme Teufel, die man trotzdem nicht entlässt. Sie müssen in den Waffenkammern arbeiten, in der Küche mithelfen, die verschiedenen Posten stellen oder Holz schlagen in umliegenden Forsten. Dabei ist jeder glücklich, der bei der Stammkompanie sein darf, denn von der gibt es kein Abgestelltwerden.
Helmut atmet die herrliche Luft. Er pumpt sich förmlich voll mit dem Atem der Freiheit, er muss ja wieder eine lange, schreckliche Zeit in Drill und Kasernenluft zubringen, denn bei ihm ist es nicht gewiss, ob er den nächsten Sonntagnachmittag frei haben wird. Wir gehen ganz dicht neben der Donau durch Stein, das wie ein Traum aus dem Mittelalter vor uns steht. Merkwürdiger Weise haben wir beide keinen Blick für die große Schönheit dieser alten Stadt. Der furchtbare Zwang liegt wie ein eiserner Reifen um unsere Stirnen. Gibt es denn überhaupt noch irgendwo auf der weiten Welt ein winziges Plätzchen, wo man allein sein kann? War es denn möglich, dass wir noch vor wenigen Jahren frei und ungehindert überall hingehen oder -fahren konnten? Wir können es nicht glauben. Wir sprechen kein Wort, denn Schweigen ist für uns etwas unendlich Kostbares. Für uns, die wir Woche für Woche, Monat für Monat in einer Atmosphäre zubringen müssen, wo nur wüstes Gebrüll, unflätige Schimpfworte und nackte Gemeinheit herrscht.
Wir gehen über die lange Brücke, die nach Mautern führt. Wie oft bin ich da gestanden und habe daran gedacht, dass mich ein Sprung in die aufgeregt um die Piloten zischenden Fluten weit weg führen könnte, so weit, dass mich nicht mehr der Befehl erreichen könnte. Hat das Leben noch einen Sinn für uns? Ich weiß nur, es kann nicht mehr lange dauern, dann zerbricht die Deutsche Wehrmacht unter den Schlägen, die ihr von Soldaten aus der ganzen Welt zugefügt werden. Ist es nicht sonderbar. Immer wieder vereinigen sich alle Nationen, wenn es gegen Deutschland geht, mögen sie sonst auch in erbitterten Fehden territorialer und wirtschaftlicher Natur liegen. „Schlaf, Stahlbadeengel, schlaf Nie-gelungen-Held.“ Wann wirst du endlich Ruhe finden? Immer wieder findet sich ein Bismarck, ein Friedrich, ein Wilhelm, ein Führer und alle hören dem betörenden Spiel des Rattenfängers zu und stürzen ohne Zögern in den Abgrund. „Denn denken brauchen nur die Pferde, die Führung weiß alles besser.“ Viele meiner jungen Kameraden aus der Schule zogen begeistert in den Krieg. Wahrscheinlich ist es die Tragik dieses Volkes „so gern Soldat zu sein“.
Nun haben wir Mautern durchschritten. Wir haben auch einige „Höhere“ mit den roten Aufschlägen der „Flak“ schon gegrüßt. Wie verhasst ist mir nur dieses Herumwerfen des ausgestreckten Arms vorm Gesicht. Das unendlich weit ausgedehnte Flaklager kommt in Sicht. Es liegt auf der Ebene zwischen Mautern und Göttweig. Immer ist hier Wind, keine Erhebung oder Senkung, ein trostloser, öder Anblick. Wir gehen am ersten und zweiten Tor vorbei und stehen vorm Haupteingang. Helmut grüßt den Wachtposten, er nennt die Namen seiner kleinen Kolleginnen, wird aber barsch abgefertigt mit dem Bemerken, nur Verwandte haben Zutritt ins Lager. Gewitzigt [sic!] verlange ich „meine Braut“ sprechen zu dürfen. Zuerst will er es nicht glauben, ich präsentiere ihm aber ein Paket mit der Adresse des Mädchens und einen an mich gerichteten Brief mit ihrer Absenderangabe vom Lager hier. So drückt er auf einen Klingelknopf und ein Mädchen in Uniform, ein weiblicher U.V.D. kommt heran und ich werde eingelassen und ihr übergeben. Helmut steht traurig draußen. „Falls ich die Mädchen ausfindig mache, schicke ich sie dir zum Gitter“, rufe ich ihm zu, „warte aber nicht länger als eine halbe Stunde“. Traurig nickt er.
[Foto des Flaklagers Mautern in der NÖN.]
Inzwischen hat mich das Mädchen in ein Baracke geführt, wo alle Daten von mir auf einen Besuchsschein aufgeschrieben werden. Endlich bekommt ein anderes Mädchen den Auftrag, das gewünschte Mädchen, Pardon „meine Braut“, zu mir zu führen. Bald kommt sie auch schon gelaufen, sie spricht kein Wort, nimmt nur ganz fest meine Hand in ihre. In der Kantine ist schon Sperrstunde. Sie hat keinen Ausgang, so nimmt sie mich mit auf ihre Stube. Ungefähr 20 Mädchen sitzen in den Winkeln der Stube, in deren Mitte eine schöne Tanne steht. Die Kerzen sind angezündet. Ein feiner weihnachtlicher Duft zieht durch den Raum, manche weinen, manche suchen sich zu beherrschen. Ich bin ergriffen. Aus allen Teilen Deutschlands kommen die Mädchen: Gerda groß, blond aus Memel, Lisa brünett, zierlich aus Danzig, Berlin, Köln, einige unbekannte Orte werden genannt. Ich kann mir nichts mehr merken. Es ist nur die Erinnerung geblieben an etwas unsäglich Trauriges.
Wie berechtigt die trüben Gedanken der armen Mädchen waren, beweist eine Karte, die ich acht Wochen später von einem der Mädchen erhielt: Durch einen Volltreffer wurde die Stellung getroffen. Alle acht Mädchen und der Scheinwerferführer wurden verschüttet. Welcher Wahnsinn Mädchen, halbe Kinder an die äußerste Front zu stellen und sie schutzlos den furchtbaren Kriegshandlungen auszusetzen. Und dabei war der Krieg lange schon verloren. Nur um das Leben von einigen wenigen Bonzen um einige Zeit zu verlängern, mussten alle diese jungen Leben sterben. Wahnsinn und Verbrechen, denn war sich die Führung der Lage bewusst, so war es Verbrechen, war sie es nicht, so war es Wahnsinn. In beiden Fällen gehören solche Menschen in sicheren Gewahrsam.
Ich glaube, dass ich diesen Abend nicht viel gesprochen habe. Ich konnte diesen armen Mädchen keinen Trost zusprechen und ihnen noch von meinem qualvollen Zustand erzählen – es war mir unmöglich. Ich musste dann gehen, damit kein Anstand auf die armen Unglücklichen fiel, sie hatten genug zu leiden. Ich ging mit meiner lieben Freundin bis zum Ausgang, an vielen Baracken vorbei, sie konnte sich nicht von mir trennen. Ich hätte sie so gern mit mir genommen, weit weg von hier oder nur nach Wien in ihre gepflegte Villa an den Hängen des Wienerwaldes. Irgendwie mussten wir dann doch voneinander gekommen sein. Sie versprach mich nächsten Samstag und Sonntag in der Kaserne zu besuchen. Ein Lichtblick, der mir half, die schreckliche Woche zu überbrücken.
Nun trabte ich in die Dunkelheit. Es war ja vollkommene Verdunkelung und ich sah Scharen von Mädchen an den Armen von Soldaten hängend, lachend und plaudernd auf dem Weg zum Lager. So gibt es doch Glückliche, die lachen können, im Angesicht alles Grauens. Oder wollen sie nur das Furchtbare zeitweilig vergessen und mit lauter Betriebsamkeit überschreien?
Wieder ging ich an der Donau entlang, sie war unheimlich und lag schwarz in ihrem Bett. Kein Lichtschimmer spielte über ihre Wellen. Ein scharfer Nordwest zwang mich den Kragen hochzuschlagen. In der Kaserne war alles wie ausgestorben. Die meisten waren ja auswärts. Wer keinen Ausgang hatte, hockte in der Kantine. Als ich in meine Stube kam, steckte ein Zettel in meinem Spind.
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| Komm gleich zu mir in |
| meine Stube, |
| Helmut |
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Ich verwahrte Kappe und Mantel im Spind und ging in den anderen Trakt, den die Stammkompanie „bewohnte“.
Helmut war ganz allein in der Stube. Er hatte sich irgendwo Holz und ein paar Kohlen verschafft und so war es ausnahmsweise recht warm in seiner Stube. Er erzählte mir, er habe noch einige Zeit auf mich gewartet, dann sei er in ein Café in Mautern gegangen. Er habe einen langen Brief an seine Frau geschrieben und es sei ihm eingefallen, dass heute die Chargen Nachturlaub hätten und er so allein in der Stube bliebe.
Meine Gefreiten hatten auch Nachturlaub. So blieben wir zusammen, nachdem ich mir Nachtmahl und Decke geholt hatte. Bald liegen wir in den elenden Pritschen, das Licht haben wir abgedreht. Nur manchmal zuckt eine rote Flammenzunge vom Ofen her in den dunklen Raum. Es ist fast erträglich warm. Bald sind wir vertieft in ein Gespräch über Kunst und ihre Stellung in der heutigen Zeit. Nur in unserer Zeit, die für nichts mehr Zeit hat, konnte sich der Expressionismus, Kubismus, Futurismus, Dadaismus und wie die Ismusse alle heißen, entwickeln. Über den schnellen Ablauf der Geschehnisse kann die Form nicht mehr berücksichtigt werden. Alles Beschau-, Geruhsam-, Besinnliche findet keinen Platz vor, alles zerrissen Sprunghafte wird gefördert, die Konzentration wird abgelehnt. Die Musik hat da ihre Parallele zur bildenden Kunst. Die Harmonie wird zerstört, nur mehr Rhythmen verbinden die Dissonanzen. Deshalb gibt es keine Oper von Bedeutung. So interessant die Schöpfungen der modernen Tondichter auch sein mögen, die Oper verlangt gebieterisch Melodie und Melodie, denn eine Singstimme ohne das tragende Gerüst der Melodik verliert ihre Wirkung. Noch schwerer wird um den Ausdruck der modernen Plastik gerungen. Hier können die Künstler nur anknüpfen an die vollkommenen Formen der Antike oder es entstehen Gebilde von abstoßender Hässlichkeit. Wirklich Schönes wurde nur auf dem Gebiete der Architektur und der Gartengestaltung hervorgebracht. Denn ein Haus erbaut im Stil des absolut Zweckmäßigen, kann durch seine klare einfache Gliederung auch das ästhetische Gefühl ansprechen. Genau wie die Schönheit einer gepflegten Rasenfläche durchbrochen von Steinplatten und Badebassins durch seine Übersichtlichkeit schön sein kann. Und das moderne Möbel, es ist müßig, wenn man, abgesehen vom hohen praktischen Wert, die Daseinsberechtigung eines gut gelösten Gebrauchsmöbels zur Debatte stellt. Das sind allerdings Fragen, die am Schnittpunkt von Kultur und Zivilisation liegen. Denn man kann in einer sehr modernen Villa aus Stahl und Beton mit den neuesten Bedarfsgegenständen ausgerüstet wohnen, muss aber nicht die geringste Spur von Kultur zeigen. Umgekehrt aber in Räumen, gefüllt mit den Kostbarkeiten erlesener Herkunft aus vier Erdteilen, leben, dabei aber die primitivsten Forderungen von Hygiene und modernem Leben vermissen. Im Spezialistentum des heutigen Menschen liegt die Gefahr. Der Meister von früheren Jahren machte den Schuh vom Zuschneiden des Leders bis zum Einziehen des Schnürsenkels ganz allein. Heute schlägt eine Arbeiter auf irgendeinen Hebel und presst eine Metallöse ins Leder. Dann wandert der Schuhteil zum nächsten Arbeiter und so fort, bis zur Verpackung in maschinell nummerierte Kartons. Oder man kann bei einem Spezialisten für Neurologie in bester Behandlung stehen, dabei aber ganz leicht an Sepsis, hervorgerufen durch eine Infektion an der Ferse, sterben. Entrüstet würde der Arzt dann sagen, ja da hätte er doch einen Chirurgen konsultieren müssen. Oder ein Tischler wird beauftragt —– doch diese Reihe ließe sich noch recht lang fortsetzen.
Solche Themen besprachen wir und konnten für einige Zeit unsere schreckliche Sorge vergessen. Als gegen zehn Uhr abends der U.V.D. Stubendurchgang machte, hatten wir das Licht abgedreht und verhielten uns ganz ruhig. Er glaubte, eine leere Stube betreten zu haben, und ging weiter. So brauchten wir keine Meldung erstatten und er wusste nicht, dass ein Fremder in der Stube war.
Langsam brannten die Holzscheite nieder, ab und zu hörte man das Geräusch eisenbeschlagener Stiefel am Gang, dann wurde es ganz ruhig. Das unheimliche Gefängnis war endlich zur Ruhe gekommen.